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4. Rheinland-Pfalz-Symposium 2011

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Frühgeborene und Therapie -
Viel hilft viel oder ist weniger mehr?
Schirmherrschaft: Malu Dreyer
Ministerin für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie des Landes Rheinland-Pfalz
Downloads
+Programm u. Referenten (pdf, 86 KB)
+Bericht Symposium
(pdf, 66 KB)
+Flyer (pdf, 595 KB)
+Poster (pdf, 711 KB)
+Presseinformation
(pdf, 196 KB)
Informationen zum Buch >Frühgeborene und Schule - Ermutigt oder ausgebremst?
Vortragsdateien der Referenten
+Prof. Dr. B. Käsmann-Kellner
"Visuelle und okuläre Besonderheiten ehemaliger Frühgeborener" (pdf, 3,8 MB)
+Dr. H. Kühne "Die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten - was geht therapeutisch?" (pdf, 749 KB)
+Prof. Dr. A. Limberger
"Hören – Lauschen - Sprechen: Diagnostik und Therapie von Hör- und Sprachentwicklungsstörungen" (pdf, 2,5 MB)
+Dr. A. Oberle
"Frühgeborene Kinder eine Langzeit-Herausforderung
Möglichkeiten und Grenzen von Therapie" (pdf, 570 KB)
+Dr. H. Peters
"Frühe Aufmerksamkeitsstörungen: Diagnostik und Intervention"
(pdf, 1,3 MB)
+Dr. B. Petersen
"Mein Kind bewegt sich nicht richtig" - motorische Auffälligkeiten und Therapien bei Frühgeborenen (pdf, 1,1 MB)
Tagungsbericht
von Karin Jäkel, LV "Früh- und Risikogeborene Kinder Rheinland-Pfalz" e.V.
Das 4. Rheinland-Pfalz-Symposium zum Thema 'Therapie': Erneut eine gelungene Veranstaltung
"Das Kind steht im Mittelpunkt, nicht die Therapie." Auf diese Formel liefen mehrere der Vorträge hinaus, die das Thema "Therapie – Viel hilft viel oder ist weniger mehr?" aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchteten. Anlass war das 4. Rheinland-Pfalz-Symposium, welches der Landesverband "Früh- und Risikogeborene Kinder Rheinland-Pfalz" e.V. (LV RLP) am 05.11.2011 in der Ludwig-Eckes-Halle in Nieder-Olm ausrichtete.
Etwa 250 Eltern, TherapeutInnen, ÄrztInnen, Pflegekräfte, PsychologInnen und "andere Profis" arbeiteten miteinander interdisziplinär in Vorträgen und Diskussionen an verschiedenen Fragestellungen, die sich von der Früherkennung bestimmter Störungsbilder über die Auswirkungen von Sinneseinschränkungen auf die Gesamtentwicklung des Kindes bis hin zu schulischen Themen erstreckten. Eine Aussprache mit Vertretern von Politik und Krankenkassen rundete die komplexe und mit viel Sachverstand gefüllte Veranstaltung ab, für die Gesundheitsministerin Malu Dreyer die Schirmherrschaft übernommen hatte.
Ein besonderes Highlight war die Vorstellung des vom LV RLP herausgegebenen Buches "Frühgeborene und Schule – Ermutigt oder ausgebremst?", das – eben erst druckfrisch erschienen -sofort rege nachgefragt wurde, vereint es doch Erfahrungsberichte betroffener Familien aus dem gesamten Spektrum der Frühgeburtlichkeit mit profundem Sachwissen, welches erfahrene Fachleute aus ihrem Sachgebiet beigesteuert haben. Ein umfassender Ratgeber für Eltern- und LehrerInnenhand liegt somit vor, den es in dieser Form bisher nicht gab und der von vielen Betroffenen schmerzlich vermisst wurde.
(>Bezug und weitere Informationen)


Das erste Exemplar überreichte der Vorsitzende Hans-Jürgen Wirthl an Frau Staatssekretärin Jaqueline Kraege, die in Vertretung von Frau Ministerin Dreyer deren herzliche Grüße überbrachte. Im Namen der Ministerin dankte sie dem LV RLP für die intensive und engagierte Tätigkeit seit Jahren sowie die Zusammenarbeit mit ihrem Hause, die die bestmögliche Lebensqualität für Frühgeborene zum gemeinsamen Ziel habe.Auch wenn Rheinland-Pfalz mit den bestehenden Einrichtungen über eine gute "Landschaft" für Kinder mit Beeinträchtigungen verfüge, sei dennoch weiterhin eine aufmerksame Begleitung der Kinder bzw. der Problematik vonnöten.
Das Konzept einer standardisierten flächendeckenden Nachsorge in RLP, das dem Ministerium seit geraumer Zeit von Seiten des LV RLP und den Sozialpädiatrischen Zentren des Landes vorliege und welches der Vorsitzende des LV RLP in seiner Begrüßung konkret angesprochen hatte, bezeichnete sie als sehr überzeugend. Man wolle seine Umsetzung engagiert vorantreiben, indem als Nächstes mit den Krankenkassen über die Finanzierung beraten werde.
Dass die Qualität der rheinland-pfälzischen Akutkliniken über dem Bundesdurchschnitt liege, bestätigte auch Prof. Dr. med. Wolfgang Rauh, Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin in Trier, der zusammen mit Dr. Helmut Peters, dem ärztlichen Leiter der der Kinderneurologie an der Rheinhessen-Fachklinik Mainz (ehemals KiNZ), die wissenschaftliche Leitung der Veranstaltung übernommen hatte. Dass die Nachsorge im Land allerdings regional sehr unterschiedlich ausfalle, bekräftigte auch er. Hierbei konnte er darauf verweisen, dass in seinem Haus, dem Klinikum Mutterhaus der Borromäerinnen in Trier, die Familien von Frühgeborenen sehr gut begleitet würden. Schon früh in der stationären Phase setze eine psychosoziale Begleitung an. Auch Therapien würden stationär eingeleitet und später ambulant fortgesetzt. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Villa Kunterbunt, eine komplett durch Spenden finanzierte Nachsorgeeinrichtung in Trier, die den Tagungsteilnehmern auch anhand einer beeindruckenden Fotoausstellung im Saal vorgestellt wurde.




Zum Themenfeld der Therapie mahnte er die Relevanz der Therapie für den Alltag des Kindes und seine Umgebung an. Man müsse Kernsymptomatik, Begleitstörungen und Folgeprobleme klar voneinander abgrenzen, die Komponenten sinnvoll gewichten und daraus die Therapieplanung entwickeln. Verlaufskontrollen mit der Möglichkeit zur Modifikation seien notwendig. Dabei müssten unbedingt auch die Resilienzfaktoren des Kindes bzw. der Familie, d.h. seine/ihre Fähigkeiten und Ressourcen, berücksichtigt und aufgenommen werden, damit Therapie nicht als "Reparaturbetrieb" missverstanden werde.
Besonders wies Dr. Oberle auf den Aspekt der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hin, der in der WHO-ICFCY Classification of Health eingearbeitet sei und ein Leitkriterium für die Therapieplanung darstelle. Wichtig für ein gelungenes Therapiemanagement sei es, transparente Therapieziele zu entwickeln, einen regelmäßigen Austausch zwischen den Betreuenden zu pflegen, alle relevanten Lebenswelten einzubeziehen sowie die langfristige Koordination aller Aktivitäten sicherzustellen.
+Download Vortrag (pdf, 570 KB)Im Anschluss referierte Dr. med. Birgit Petersen vom Klinikum Mutterhaus in Trier, zum Thema "Motorische Auffälligkeiten und Therapie". Die Neuropädiaterin erläuterte die mögliche Herkunft motorischer Problematiken, indem sie darauf verwies, dass ein Drittel des Gesamtwachstums des Gehirns in den letzten drei Schwangerschaftsmonaten stattfinde, also in einer bei Frühgeborenen sehr verletzlichen Phase, in der mögliche Läsionen sowie intensiver Stress zusätzliche Risikofaktoren darstellten. Voraussagen bzgl. der späteren motorischen Entwicklung seien jedoch aufgrund der Plastizität des kindlichen Gehirns (= seiner Fähigkeit, geschädigte Bereiche evtl. durch andere Hirnareale zu "ersetzen") nicht möglich. Im Säuglingsalter seien dann sehr bewegungsauffällige Kinder schon im Sinne einer Cerebralparese erfassbar, milde Störungsbilder könnten aber meist frühestens ab dem zweiten Lebensjahr erkannt werden. Bei 75% der Frühgeborenen mit einer Cerebralparese sei eine periventrikuläre Leukomalazie nachweisbar.
In der Therapie der Cerebralparesen müssten primäre von sekundären und tertiären Störungen abgegrenzt werden. Ziel der Therapie sollte sein, die Folgeprobleme (bei einer Spastik z. B. Muskelkontrakturen und Deformierungen) so gering wie möglich und so spät wie möglich einsetzen zu lassen. Dazu sei eine interdisziplinäre Betreuung, z. B. durch Physio- und Ergotherapie sowie eine koordinierte Hilfsmittelversorgung, sinnvoll. Auf die Therapie mit Botulinumtoxin ging die Referentin im Folgenden besonders ein. Diese Therapie helfe Folgeschäden zu minimieren, müsse aber früh einsetzen und von einem erfahrenen Behandler durchgeführt werden. So könne sie auch einer schmerzhaften Hüftluxation gut vorbeugen. Ziel jeder Therapie sei eine Optimierung der Funktionalität, denn das Kind und seine Entwicklung stehe im Vordergrund aller Bemühungen.
+Download Vortrag (pdf, 3,8 MB)"Hören – Lauschen –Sprechen: Diagnostik und Therapie von Hör- und Sprachentwicklungs-störungen" war das Thema, mit dem im Anschluss Prof. Dr. med. Annette Limberger vom Studiengang Augenoptik und Hörakustik an der Hochschule Aalen die ZuhörerInnen vertraut machte. Zur Hörentwicklung berichtete sie, dass die Hörschnecke im Innenohr ab einer Reife von 22-24 Schwangerschaftswochen vollständig ausgebildet sei. Durch Frühgeburt erworbene Hörschwierigkeiten seien in diesem Bereich eher nicht zu erwarten. Der Hörnerv müsse allerdings noch reifen, seine Nervenleitgeschwindigkeit, die man durch eine Hirnstamm-Audiometrie messen könne, verkürze sich je nach Reifezustand noch bis ins Erwachsenenalter. 10% der Frühgeborenen unter 1500g Geburtsgewicht wiesen Hörstörungen auf, während dies nur bei 2-3 je 1000 Reifgeborenen der Fall sei. Eltern sollten darum die Reaktionen ihres frühgeborenen Kindes auf Geräusche, Sprache und Musik sowie seine Sprachentwicklung und sein Sprachverständnis aufmerksam beobachten, um einer eventuellen Hörstörung möglichst früh auf die Spur zu kommen. Eine fachliche Diagnostik umfasse die Untersuchungen der Trommelfellbeweglichkeit (Tympanogramm), der Innenohrfunktion (OAE) und der spezifischen Hirnstammaktivität (BERA). Hör- und Sprachtests seien zur Beurteilung ebenfalls notwendig, bestimmte Hörtests seien sogar schon zuverlässig bei sehr jungen bzw. beeinträchtigten Kindern durchführbar.
Eng verbunden mit der Hörfähigkeit sei natürlich die Sprachentwicklung der Kinder. Sprache sei eine sehr komplexe Summationsleistung aus Intelligenz, Psyche, Sprechantrieb, Konstitution, Motorik, Sinnesorganen und Umwelt. Zum Erlernen von Sprache sei eine Interaktion mit den Bezugspersonen zwingend notwendig. Prof. Limberger skizzierte die verschiedenen Stufen einer normalen Sprachentwicklung und erläuterte die notwendigen Komponenten des Spracherwerbs mit Hilfe des sog. "Sprachbaums" nach Lauer, anhand dessen sie u.a. aufzeigte, dass die sprachliche Kommunikation der Eltern mit den Kindern immer möglichst zugewandt, akzeptierend und motivierend sein sollte. Keinesfalls sollte man die Kinder Wörter nachsprechen lassen oder ihnen ins Wort fallen, stattdessen sollte man sie zum Sprechen anregen und ermutigen. Die Therapie von Hörstörungen könne je nach Situation und Diagnose konservativ, operativ, apparativ oder interdisziplinär erfolgen. Bei Sprachstörungen sei neben der kindlichen Therapie eine Elternschulung anzuraten.
+Download Vortrag (pdf, 2,5 MB)"Notwendige Augennachuntersuchungen" lautete der Titel des anschließenden Vortrags von Prof. Dr. med. Barbara Käsmann-Kellner von der Universität des Saarlandes in Homburg/Saar. Sehprobleme aufgrund einer Frühgeburt könnten vom Auge oder vom Gehirn ausgehen, stellte die Ophthalmologin und Leiterin der AG für Kinder- und Neuroophthalmologie fest. Augenbedingt seien dies z. B. Netzhautschäden, fehlerhafte Sehschärfe, Katarakt, Glaukom oder Fehlsichtigkeiten. In Bezug auf das Gehirn spreche man von zentralen visuellen Wahrnehmungsstörungen, wenn das Organ Auge gesund sei, das Kind sich aber dennoch seheingeschränkt verhalte. Darüber hinaus könnten frühgeburtlich bedingte Sehprobleme nicht nur in der Säuglingszeit und frühen Kindheit sondern auch später jederzeit auftreten. Eine kontinuierliche Begleitung durch eine Augenarztpraxis mit angeschlossener Sehschule sei dringend zu empfehlen. Die vorgeschriebene Sehschärfenprüfung bei der U7a beim Kinderarzt sei viel zu spät angesetzt. Da Frühgeborene einem erhöhten Risiko für erhöhten Augendruck unterliegen, müsse auch dieser regelmäßig überprüft werden, um eine Sehnervschädigung zu verhindern. Heutzutage seien Erblindungen bzw. starke Sehschädigungen durch Frühgeburt eher selten geworden. Eine vorhandene Sehminderung müsse jedoch so früh wie möglich erkannt und behandelt werden, da sie unweigerlich zu motorischen und kognitiven Defiziten führe. Immerhin würden 80% aller Reize über die Augen aufgenommen. Die Sehfähigkeit sei also unabdingbar für die kindliche Entwicklung. Einschränkungen in der Sehfähigkeit seien gleichzeitig Einschränkungen für den Erfahrungsraum der Kinder. Ihre Körper-, Bewegungs- und Raumwahrnehmung würde dadurch beeinträchtigt. Dies habe Auswirkungen auf die Grob- und Feinmotorik (z. B. Auge-Hand-Koordination), die Orientierung (z.B. Raum-Lage-Wahrnehmung) und die Kommunikation (Blickkontakt, Nahsehen). Wahrnehmungsprobleme würden im Vorschulalter oft unterschätzt und entfalteten dann im Schulalter erst ihre wirkliche Relevanz, z.B. in Form von Teilleistungstörungen. Eine frühzeitige adäquate Förderung sei darum dringend anzuraten, denn "Sehen ist mehr als nur Auge!", gab sie dem Publikum mit auf den Weg.
+Download Vortrag (pdf, 3,8 MB)
In der Aussprache, die auf den ersten Vortragsblock folgte und die – wie die gesamte Veranstaltung - in bewährter Form von Sabine Stöhr (SWR) moderiert wurde, kamen Themen wie das Recht auf Intensiv-Reha-Maßnahmen für Kinder mit Cerebralparesen sowie eine fehlende interdisziplinäre Vernetzung der verschiedenen Behandler zur Sprache. Zum Thema Sprachförderung wurde das "Heidelberger Elterntraining" als geeignetes Material auch für Elternhand empfohlen. Außerdem berichteten die Fachleute, dass bei visuellen Wahrnehmungsstörungen ein schulischer Nachteilsausgleich durchaus möglich bzw. beantragbar sei, wenn entsprechende Gutachten vorlägen.Die Referate des Nachmittags eröffnete Dr. med. Hermann Kühne aus Altötting, Oberarzt am Zentrum für Kinder und Jugendliche Inn-Salzach, mit dem Thema "Die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten – was geht therapeutisch?". Dieses Thema habe große Relevanz, da die Frühgeborenen die größte Risikogruppe für Entwicklungs-störungen darstelle, erläuterte er.
Die sog. "umschriebenen Entwicklungsstörungen" seien abzugrenzen von den sog. "allgemeinen", d.h. es handele sich um Defizite in der Informationsverarbeitung und/oder Handlungsplanung, die bei normaler Denkfähigkeit auftreten. Ausschließen müsse man eine Minderintelligenz, globale Entwicklungsstörungen sowie erziehungs- und/oder neurologisch bedingte Defizite. Eine möglichst ungestörte auditive und visuelle Wahrnehmung sei natürlich Voraussetzung für das Erlernen schulischer Fertigkeiten. Bei Leseschwäche, Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) oder Dyskalkulie müsste die Diagnostik sowohl die Intelligenz bzw. den Entwicklungsstand des Kindes erheben. Daneben sei der körperliche-neurologische, psychische Befund sowie ein Einblick in den sozialen/psychosozialen Hintergrund des Patienten sowie die Erhebung der Ätiologie der Erkrankung vonnöten. Zur Testung der Intelligenz stellte der Referent verschiedene Testungen vor. Teilleistungsstörungen seien dann festzustellen, wenn die Leistungen des Kindes im betroffenen Bereich um mindestens 1,5 Standardabweichungen (= 22 IQ-Punkte) im Vergleich zu seinen sonstigen Leistungen abweicht. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie würde eine Abweichung von 1,2 Punkten zur Diagnosestellung angesetzt. Da eine genetische Belastung zu 60-80% vorliege, sei auch eine Familienanamnese durchzuführen. Eine Eigenanamnese des Kindes solle die prä- und perinatalen Erfahrungen des Kindes abklären sowie Informationen über den Erwerb von Vorläuferfunktionen wie malen, zeichnen oder schneiden aufzeigen. Schließlich müsse man die familiären und schulischen Rahmenbedingungen ebenfalls beleuchten, um eine fehlerhafte Diagnosestellung zu vermeiden.
Interessanterweise sei eine Häufigkeit von LRS in allen Kulturen im Umfang von 4-7% zu beobachten. Die Störung verwachse sich nicht. Ein Erlernen von "Umgehungskreisläufen" sei darum entscheidend. Als Symptom sei z.B. die Lesegeschwindigkeit ein sehr prädiktiver Faktor. Eine anhaltend verminderte Lesegeschwindigkeit sei nur schwer therapierbar.
Als Komorbiditäten würden AD(H)S, Probleme in Wahrnehmung, Verhalten und Psyche sowie in den Bereichen Sprache, Rechnen und Motorik beobachtet. Die Standarddiagnostik umfasse die Felder Entwicklungsneurologie, Intelligenztestung, Test bzgl. Rechtschreibung und Lesen sowie des Leseverständnisses, das Überprüfen der Seh- und Hörfähigkeit, EEGs sowie eine AD(H)S-Testung. Eine Therapie für ausgewiesene Lese-Rechtschreib-Schwächen sei nicht rezeptierbar, sondern müsse von den Betroffenen über § 35a SGB VIII beim Jugendamt beantragt werden. Zur Therapiegetaltung beschrieb er einen Stufenaufbau, direkte Rückmeldungen sowie häufiges Wiederholen als günstig. Eine problemnahe Therapie sollte individuell durchgeführt werden, wobei eine Zusammenarbeit von pädagogischen, psychologischen und medizinischen Fachkräften wünschenswert sei. Unspezifische Maßnahmen seien ineffektiv. Die Korrektur sollte für teilleistungsbetroffene Kinder immer motivierend sein. Möglichst sollte im schulischen Bereich ein Nachteilsausgleich in Anspruch genommen werden.
+Download Vortrag (pdf, 749 KB)Dr. med. Helmut Peters referierte danach über die "Diagnostik und die Intervention bei frühen Aufmerksamkeitsstörungen". Er betonte, das Symptombild des AD(H)S sei definitiv keine Modeerkrankung, sondern seit dem frühen 18. Jahrhundert nachweisbar bzw. mit den medizinischen Möglichkeiten der Zeit beschrieben. Die Leitsymptome bezeichnete er gleichzeitig als ausgewiesene Leidsymptome für die Betroffenen. Sie bezögen sich auf die Gebiete Impulskontrolle, Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit sowie motorische Unruhe. Die Häufigkeit der Erkrankung sei mit 3-5% in der Gesamtbevölkerung anzusetzen. Frühgeborene wiesen jedoch ein erhöhtes Risiko auf, dabei seien Kinder aus der 23.-28. Schwangerschaftswoche mit einem doppelten Risiko behaftet, Kinder aus der 35.-36. Schwangerschaftswoche wiesen immerhin noch ein um 30% erhöhtes Risiko auf. Dr. Peters vertrat die These einer weitgehend genetischen Disposition von AD(H)S. Zur Diagnostik gebe es keinen standardisierten Test. Stattdessen müssten Fragebögen sowie die Untersuchung des Patienten durch einen erfahrenen Arzt den Ausschlag geben. Die Diagnosestellung sei erst ab dem 6. Lebensjahr möglich, während die Patienten allerdings schon vorher auffällig seien und litten. Viele verschiedene klinische Themen würden eine Abklärung auf AD(H)S erfordern, nämlich Wahrnehmungs- und Teilleistungsstörungen, Enuresis und Enkopresis (= krankhaftes Einnässen und Einkoten), Adoptiv- und Pflegekinder, Migräne, Frühgeborene, muskuläre Hypotonie, Delinquenz, Suchtverhalten, Dissozialität und Schulleistungsstörungen. Oft würde bei Therapie eines vorhandenen AD(H)S eine deutliche Reduzierung der vorgenannten Auffälligkeiten erreicht. Die Physiologie eines AD(H)S wurde ausführlich erläutert, ebenso wie die Multimodalität der Behandlungsansätze (Information, Psychoedukation, Medikation). Für die Behandlung entscheidend sei allerdings immer die vorhandene Leidensdimension.
+Download Vortrag (pdf, 1,3 MB)Den Reigen der Vorträge beschloss Prof. Dr. Bettina Janke von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Als Psychologin beleuchtete sie die "sozio-emotionale Kompetenz von Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter". Emotionen definierte sie als vorübergehende psychische Vorgänge, die durch innere oder äußere Reize ausgelöst in spezifischer Qualität und zeitlichem Verlauf aufträten. Sie erläuterte die verschiedene Emotionsebenen Erleben, Ausdruck, somatische Reaktionen, Verhalten sowie Gedanken und Vorstellungen. Die Funktionen von Emotionen seien die Befähigung zu Anpassung und Interaktion. "Emotionen sind die Basis für ‚kluge´ Entscheidungen!", formulierte sie. Die Regulation von Emotionen sei bei Frühgeborenen im Durchschnitt schlechter. Im Anschluss beschrieb die Referentin die "normale" Entwicklung der Emotionsregulation und hob hervor, dass im schulischen Bereich eine große Regulationsfähigkeit nötig sei. Diese Fertigkeit sei abhängig von der Reifung und dem Temperament des jeweiligen Kindes sowie von der Einfühlsamkeit bzw. der Reaktion der persönlichen Umwelt in Familie und Einrichtung/Schule. Sie unterschied zwischen Emotionswissen/-verständnis und Sozialverhalten/-kompetenz. Je mehr Emotionswissen ein Kind habe, desto besser sei auch seine Sozialkompetenz. Dies könne man mit Hilfe entsprechender Programme und auch durch entsprechendes Verhalten in den Familien gezielt trainieren. Den Eltern empfahl sie abschließend, in der Familie einen häufigen Austausch über emotionales Erleben zu pflegen. Dies solle unbedingt in einem positiven emotionalen Klima stattfinden. In Form einer Art Coaching sollten die Eltern mit ihren Kindern emotionale Erlebnisse erklärend nacharbeiten. Das Elternverhalten sollte modellhaft sein. Leider läge zu diesem Thema kein Material für Lehrkräfteverhalten vor.
Die Veranstaltung wurde abgeschlossen durch ein Roundtable-Gespräch zwischen der Leiterin der Abteilung Gesundheit im MSAGD Christine Morgenstern, Prof. Rauh, Dr. Cathrin Schäfer vom LV RLP, Hans Tilly als Sprecher der SPZ in Rheinland-Pfalz, Dipl.-Psych. Ulrike Reichmann vom Club Aktiv e.V. in Trier und Melanie Kessler von der TK-Landesvertretung Rheinland-Pfalz unter der Moderation von Sabine Stöhr und unter reger Teilnahme des Auditoriums.
Die beherrschenden Themen des Gespräches waren die Umsetzung des vorgelegten Nachsorgekonzeptes sowie die strukturelle Implementierung einer möglichst guten Koordination notwendiger Diagnostik und Therapie. Dabei sollten vorhandene Strukturen aufgenommen und sinnvoll vernetzt werden, eine koordinierte und kompromissbereite Zusammenarbeit müsse angestrebt werden. In den Regionen Neuwied und Bad Kreuznach sei dies bereits gelungen. Regional unterschiedlich seien allerdings krasse strukturelle Unterschiede zu beobachten. Verbesserungen seien auch bei insgesamt guter vorhandener Struktur immer möglich, räumte die Vertreterin des Ministeriums ein. Die Notwendigkeit einer guten Gesamtstruktur nehme sie als Auftrag der Veranstaltung mit.Die Diskutanten waren sich einig darin, dass eine optimierte Versorgungsstruktur in Verbindung mit einem früheren Einsetzen der Begleitung letztendlich ein nicht unbedeutendes Maß an Kosten einsparen würde. Wenn Auffälligkeiten erst im Schulalter diagnostiziert würden, sei wertvolle Zeit vertan. Eine von vorneherein intensive Diagnostik würde helfen, unnötigen "Therapietourismus" zu unterbinden. Zusätzlich sei eine Mobilisierung der elterlichen Ressourcen wünschenswert, welche durch Elternschulungen erreicht werden könne. Leider würden diese nicht in den Finanzierungsregelungen der Krankenkassen abgebildet. Hier sollte man Veränderungen vornehmen. Zudem seien die SPZ an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt. Wartezeiten von einem Jahr seien keine Seltenheit, seien den Betroffenen aber kaum noch zuzumuten. Eine wichtige Information für die Anwesenden war zudem, dass die Heilmittelrichtlinie zum 01. Juli 2011 reformiert wurde, so dass chronisch Kranke nun beantragen könnten, ihre Behandlung außerhalb des normalen Hausarztbudgets abzurechnen. Weiterhin wurde eine fehlende Inklusion beeinträchtigter Kinder in normalen Sportvereinen beklagt. Hier könnte eine Aktion mit dem Landessportbund aufgelegt werden.
"Wir können nicht alles wegtherapieren!" Das Erreichen einer möglichst guten Lebensqualität müsse das Ziel aller Bemühungen sein, formulierte Cathrin Schäfer in der Abschlussrunde. Dazu sei eine Klimaveränderung in der Gesellschaft anzustreben. Es müsse normal sein, anders zu sein. Mit diesem wegweisenden Satz endete die Veranstaltung, der die Teilnehmer unisono bescheinigten, eine komplexes Thema sehr professionell behandelt zu haben.
